Manchmal ist das Aufhören der verantwortungsvollere Schritt als das Weitermachen.
Dieser Beitrag ist ein Versuch, Worte für etwas zu finden, das viele Führungspersonen im Nonprofit-Bereich und in Vereinen kennen, aber selten offen aussprechen: den Druck, immer alles zu geben und doch das Gefühl zu haben, den vielfältigen Erwartungen nicht gerecht werden zu können.
Nach zwölf Jahren, davon neun in leitender Funktion, habe ich mich entschieden, mein Arbeitsumfeld zu ändern und mich neuen Herausforderungen zu stellen. Nicht leichtfertig. Nicht impulsiv. Sondern nach dem ehrlichen Eingeständnis, dass ich unter den strukturellen Bedingungen nicht mehr so führen konnte, wie es meinem Engagement, meinen Werten, meiner Erfahrung und meiner Verantwortung als Führungsperson entsprochen hätte.
Die Leitungsrolle ist eine Drehscheibe zwischen all den verschiedenen Verantwortlichkeiten. Führung im Nonprofit-Bereich ist nie eindimensional. Die Forschung beschreibt diese Position als multiple accountability: Man ist gleichzeitig verantwortlich gegenüber dem Vorstand bzw. Stiftungsrat, den Mitgliedern, den Mitarbeitenden, den Klient:innen, den Subventionsgebern und ihren Leistungsvereinbarungen und nicht zuletzt dem Gesetz, Verordnungen, Richtlinien und den eigenen Werten.
Organisationen, die auf öffentliche Mittel angewiesen sind, bewegen sich in einem „hybriden“ Umfeld: einem Gefüge aus marktwirtschaftlichen Anforderungen, Nonprofit-Logik und staatlicher Steuerung. Solche Hybridorganisationen müssen oft gegensätzliche Aspekte gleichzeitig erfüllen, etwa Ressourcen effizient einsetzen und zugleich ihrer sozialen Mission gerecht werden. Für die Geschäftsleitung bedeutet das, zugleich „Hüterin“ von Vorgaben zu sein und den operativen Alltag zu gestalten: Teamfragen, Abläufe, Personal-, Material- und Mitteleinsatz – mit all den Erwartungen, die Mitarbeitende daran knüpfen.
Studien des Center for Effective Philanthropy und der Nonprofit-Governance-Forschung zeigen deutlich, wie widersprüchlich diese Erwartungen sein können: Man soll innovativ sein und gleichzeitig strikte Vorgaben einhalten. Man soll Mitarbeitende entlasten und gleichzeitig Ressourcen sparen. Man soll motivieren und gleichzeitig Grenzen setzen, die von aussen kommen. Und man soll loyal zum Team stehen und gleichzeitig die Interessen der Institution und übergeordnete Vorgaben vertreten.
Solche Erwartungen gibt es in jeder Führungsposition. Doch im Nonprofit-Bereich treffen sie gebündelt aufeinander, aus mehreren Richtungen gleichzeitig. Das macht viele Entscheidungen nicht nur anspruchsvoll, sondern auch emotionaler. Die Forschung fasst die Folgen klar zusammen: Viele Führungspersonen beschreiben eine anhaltende emotionale Erschöpfung, die aus ständigen Verantwortlichkeiten gegenüber verschiedenen Anspruchsgruppen resultiert.
Hinzu kommt die Dynamik der Zuschreibung von Verantwortlichkeit: blame dynamics. Gemeint ist die Tendenz, negative Gefühle oder Enttäuschungen an jene Personen zu adressieren, die sichtbar Verantwortung tragen. Man erlebt das, wenn externe Vorgaben Druck erzeugen, Ressourcen knapp sind, ein Nein nötig ist oder Richtlinien einzuhalten sind. Oft landet der Frust dann bei der Geschäftsleitung, selbst wenn die Vorgaben strukturell bedingt und nicht selbst entschieden sind.
Studien zeigen, dass Führungspersonen im Nonprofit-Bereich besonders anfällig dafür sind, für Rahmenbedingungen verantwortlich gemacht zu werden, die sie nicht beeinflussen können. Mit der Zeit tritt die Rolle in den Vordergrund, der Mensch dahinter in den Hintergrund; die Beweggründe, Werte und der eigene Anspruch werden nicht mehr gesehen. Das ist belastend und manchmal auch verletzend. Dass diese Dynamik kein Einzelfall ist, zeigt eine Zahl besonders deutlich: 95 % der Nonprofit-Leitungen berichten laut CEP von Sorgen um Burnout im eigenen Umfeld. Das verdeutlicht: Die Verantwortung ist oft grösser als der Handlungsspielraum.
Daraus wächst eine Spannung zwischen dem, was man sein möchte, dem, was ist, und dem, was die Strukturen zulassen.
Ich will eine gute Führungspersönlichkeit sein: unterstützend, zuhörend, fördernd, fair. Ich will Räume schaffen, in denen Mitarbeitende wachsen, Klient:innen profitieren und Qualität gelebt wird. Gleichzeitig muss ich Vorgaben umsetzen, die direkten Einfluss auf Personal, Abläufe und Material haben. Viele dieser Vorgaben sind nicht verhandelbar; sie kommen aus Leistungsvereinbarungen, Gesetzesgrundlagen oder strategischen Entscheiden der Institution.
Die Literatur nennt das role conflict und role overload: Überlastung, die entsteht, wenn Anforderungen und Ansprüche steigen, aber der Gestaltungsspielraum schrumpft. Für mich war das der Alltag.
Meine Entscheidung zu gehen, traf ich aus dem Bedürfnis nach Integrität heraus. Ich habe sie nicht wegen des Stresses getroffen, nicht wegen der Dauerverfügbarkeit oder der Verantwortung, und auch nicht wegen meines eigenen Anspruchs. Sondern wegen dem Gefühl, nicht mehr gesehen und nicht verstanden zu werden: nicht gesehen in der täglichen Vermittlungsarbeit, nicht verstanden in den widersprüchlichen Anforderungen, nicht wahrgenommen in meinem Einsatz für gute Bedingungen. Und es fehlte auch das Vertrauen darauf, dass alle Ebenen, Vorstand, Mitarbeitende und ebenso die Leitung, in bester Absicht handeln und nach tragfähigen Lösungen suchen.
Heute weiss ich: Ich bin mit diesem Gefühl nicht allein. Viele Führungspersonen im Nonprofit-Bereich berichten, dass sie sich isoliert fühlen, obwohl sie mitten in der Organisation stehen. Die Forschung nennt es leadership loneliness.
Mein Schritt aus der Rolle hinaus war ein Schritt aus Verantwortung – für mich und für die Organisation.
Ich bin nicht gegangen, weil ich die Menschen nicht mehr mochte. Im Gegenteil: Beziehungen, Ideen und gemeinsame Werte haben mich getragen.
Ich bin gegangen, weil ich merkte, dass ich zwischen Erwartungen, Ansprüchen, Vorgaben und Verantwortung zerrieben wurde. Weil das, was ich fachlich und menschlich vertreten wollte, immer weniger mit den strukturellen Bedingungen vereinbar war, besonders dort, wo Erneuerung, Erfahrung und Tradition unterschiedlich priorisiert wurden. Und weil meine Rolle zunehmend zur Projektionsfläche wurde: für Entscheidungen, die frei interpretiert wurden, für Erwartungen, die nicht erfüllt werden konnten, und für Spannungen, die ihren Ursprung in systemischen Rahmenbedingungen hatten.
Ich bin gegangen, weil der Mensch hinter der Führungsrolle Grenzen hat und ein grosser Teil der Belastung genau dort entstand, wo Team und Leitung einander eigentlich am nächsten sein müssten. Meine Erfahrung ist ein Spiegel für viele kleine Institutionen im Nonprofit-Bereich, gerade in sozialen und subventionierten Feldern. Und es gibt einige Erkenntnisse, die sich daraus ziehen lassen:
Führung braucht klar definierte Mandate und realistische Grenzen. Transparenz und Kommunikation hilft, löst aber keine strukturellen Widersprüche. Mitarbeitende müssen wissen, wo Vorgaben ihren Ursprung haben. Vorstände müssen die realen Belastungen von Leitungen erkennen, sie stützen und schützen. Und Führung darf nicht bedeuten, alles auszuhalten, sondern die eigenen Grenzen zu kennen.
Eine Führungsperson kann nicht alle Ansprüche gleichzeitig erfüllen. Niemand kann das, und niemand sollte es müssen. Diese Erwartung, sei sie selbst auferlegt oder von aussen herangetragen, ist auf Dauer ungesund – und wird am Ende nicht verdankt.
Was es stattdessen braucht, ist gegenseitiges Verständnis: dafür, dass jede Ebene ihren Beitrag leistet und auch ihre Limiten kennt. Die Grundlage dafür sind Beziehung, Vertrauen und der Wille, einander verstehen zu wollen – offen füreinander zu sein, auch dann, wenn unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen. Und nicht zuletzt die Anerkennung, dass wir alle Menschen sind – mit Stärken, Schwächen und vielen guten Absichten – und nicht nur die Rollen, die wir erfüllen.
Vielleicht hilft dieser Beitrag anderen Führungspersonen, früher innezuhalten, ihre Rolle zu reflektieren und ihre Grenzen klar zu kommunizieren – gegenüber sich selbst, dem Team und dem Vorstand.
Vielleicht hilft er Mitarbeitenden, die Perspektive ihrer Leitung und den Gesamtkontext besser zu verstehen.
Vielleicht hilft er der Trägerschaft, die Rolle ihrer Geschäftsleitung nicht nur über Aufgaben und Verantwortung zu definieren, sondern auch über das, was sie braucht, um gesund führen zu können: Vertrauen und die Bereitschaft, strukturelle Herausforderungen gemeinsam zu tragen.
Und vielleicht hilft er mir selbst, Altes loszulassen und mich vertrauensvoll dem zuzuwenden, was vor mir liegt.
Sandra Bothe-Wenk
Grossrätin Grünliberale Basel-Stadt
Wahlkreis Riehen
Bildquelle: Sandra Bothe, Dänemark 2018
Quellenverzeichnis:
1 Center for Effective Philanthropy (2023). The State of Nonprofits 2023: What Funders Need to Know.
https://cep.org/portfolio/the-state-of-nonprofits-2023-what-funders-need-to-know/
2 Ebrahim, A. (2010). The Many Faces of Nonprofit Accountability. In: Renz, D. (Hrsg.), The Jossey-Bass Handbook of Nonprofit Leadership and Management. San Francisco: Jossey-Bass.
3 Piatak, J. S., & Holt, S. B. (2022). Blame Avoidance and Accountability in Public and Nonprofit Organizations. Public Administration Review, 82(4), 671–684.
4 Center for Effective Philanthropy (CEP). Leadership Burnout Data. Zusammenfassende Angaben aus internen CEP-Befragungen (zitiert nach CEP 2023).